Eine Nacht mit
Nicole Graf
Text: Barbara Anderegg
Foto: Reto Martin
21:55 Uhr: Nicole Graf tritt ihren Dienst in der Telefonzentrale am Standort Kantonsspital St.Gallen an. Ein kurzer Austausch mit der Kollegin der Tagschicht – schon klingelt das Telefon. Eine schwangere Frau mit Blutungen. Nicole Graf verbindet mit der gynäkologischen Notfallnummer. Ein Arzt aus dem Spital Grabs wird an den Neurochirurgie- Dienstarzt weitergeleitet. Ein Mann klagt über starke Kopfschmerzen – nach ein paar Fragen stellt sie ihn zur neurologischen Dienstärztin durch.
Gezielt verbindet die Telefonistin mit der richtigen Stelle – angesichts der unterschiedlichen Arten der Erreichbarkeit der Dienstärzte nicht ganz einfach. «Wenn ich auflege, ist meine Aufgabe erledigt. Es entstehen keine Pendenzen, das mag ich», sagt die 53-Jährige, bevor sie den nächsten Anruf entgegennimmt.
23:10 Uhr: Eine Frau erkundigt sich nach ihrem Mann, der von der Rettung eingeliefert wurde. Auf der Notfallstation wird ein Rechtsmediziner gebraucht – Nicole Graf bietet diesen über die Polizei auf. Dann eine aufgeregte Männerstimme: «Mein Sohn hat zu viele Beruhigungstabletten geschluckt und ist nicht mehr ansprechbar!» – «Bleiben Sie ruhig und rufen Sie die 144 an», instruiert Nicole Graf. Stress empfindet sie selten. Ausnahme: «Wenn ich die Rea-Alarmierungskette auslösen muss.»
23:52 Uhr: «Ich suche den Eingang zum Notfallzentrum.» Der Mann am anderen Ende der Leitung tönt verzweifelt. Er habe nur noch wenig Zeit, um sich von seinem verunfallten Sohn zu verabschieden. Nicole Graf dirigiert ihn umsichtig an den richtigen Ort. «Solche Anrufe gehen mir nahe», sagt sie.
Rund 50 bis 60 Anrufe gehen im Schnitt pro Nacht in der Telefonzentrale ein. Bis Mitternacht sei es am intensivsten. Ab dann bleibt Nicole Graf auch Zeit, sich zwischendurch in Neuerungen einzulesen, die allgemeinen E-Mail-Postfächer zu prüfen, die Bürotische zu reinigen.
02:05 Uhr: Eine Ärztin will mit dem Unispital Zürich verbunden werden. Eine Station braucht den Sicherheitsdienst wegen eines renitenten Patienten. Die Art der Anrufe bleibt vielfältig, die Zeit dazwischen wird immer länger.
03:45 Uhr: Zeit für einen Tee mit dem Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts und einen kleinen Snack, «der sich schnell runterschlucken lässt», sagt Nicole Graf schmunzelnd. Und schon klingelt das Telefon. Der Transplantationskoordinator meldet dem Sicherheitsdienst ein Entnahmeteam für 05:00 Uhr an. Jede fünfte Nacht bedient Nicole Graf die Telefone des KSSG und des Spitals Wil. Hinzu kommen ein bis zwei Tagdienste, um fachlich auf dem Laufenden zu bleiben. «Dank der Nachtarbeit bin ich flexibler in der Organisation des Familienalltags», sagt die Mutter zweier Kinder im Teenageralter.
05:15 Uhr: «Meine kritische Zeit», gesteht Nicole Graf, steht auf und läuft ein paar Schritte, um die Müdigkeit zu vertreiben. Bald nehmen die Anrufe wieder etwas zu, darunter jetzt auch Anfragen zu Terminen. «Da müssen wir auf später vertrösten, weil wir keinen Einblick in die Systeme haben, und sie zu Bürozeiten erst weiterverbunden werden können.»
06:30 Uhr: Feierabend. Nicole Graf macht sich auf den Weg nach Hause, wo sie den Kindern noch einen guten Tag wünscht, bevor sie sich nach einer langen Nacht schlafen legt.
Nicole Graf
53 Jahre
Mitarbeiterin Telefonzentrale